Ich hinterfrage gerne Sprache. Schaut man sich an, woher der Begriff „normal“ kommt, dann erfährt man, dass „Norm“ von lat. Richtschnur, Maßregel und später dann zu Vorbild, Regel wurde. Etwas zu normieren heißt also, es einem gewissen Vorbild anzupassen, etwas auf Maß zu bringen. Das macht bei der Größe von Dingen absolut Sinn und ist durchaus praktisch, aber kann dasselbe Prinzip auch auf einen Menschen angewandt werden?
Kaum ist ein junger Mensch geboren – und oftmals sogar schon im Mutterbauch – beginnt der Druck des „normal Seins“: Isst, geht, schläft, spricht das Kind im dafür vorgesehenen, dem Durchschnitt, entsprechenden Alter? Ich kann mich nur zu gut daran erinnern, wie sehr mich das alles als junge, unerfahrenen und damit leicht zu verunsichernde Mutter gestresst hat. Es gibt für alles Charts und Normierungen und man sorgt sich, dass der Nachwuchs dem allem irgendwie entspricht und nicht aus der Norm fällt. Denn dann drohen Stigmatisierung und Pathologisierung: Das Kind kann dies und das noch nicht? Da braucht es dringend Förderung, es werden Schwächen attestiert und Diagnosen gestellt. Das ist doch nicht normal!
Und auch wenn es manches Mal hilfreich und erleichternd sein kann, zu erfahren, dass etwas vielleicht psychisch oder physisch nicht stimmt mit dem Kind und man aktiv etwas tun kann, um zu helfen, möchte ich dringend dazu appellieren, mit allzu schnellem „Boxendenken“ sehr vorsichtig zu sein. Dieses an irgendeiner von Außen vorgegebenen „Leistung“ orientierte Denken abzulegen. Kein Mensch kann per Definition je einem Durchschnitt entsprechen. Und noch viel wichtiger: Wollen wir uns wirklich alle am Durchschnitt orientieren?
Wäre es nicht eine viel buntere, vielfältigere und freiere, entspanntere Welt, wenn wir auf die persönlichen Stärken, Begabungen und Begeisterungen schauen würden und den Menschen ganzheitlich als Individuum betrachten würden? Wenn wir den Fokus wegnehmen würden von dem, was Der- oder Diejenige NICHT kann, hin zu dem, welche Geschenke jeder Einzelne mitbringt für diese Welt? Vor allem aber auch den Blickwinkel durchaus zu erweitern und ALLE Kompetenzen und Gaben anerkennen, nicht nur den leicht abprüfbaren Fächerkanon im Bildungssystem. Denn die Gesellschaft braucht die gesamte Bandbreite an Intelligenzen und Fähigkeiten.
Was würde es brauchen, um eine solche Utopie gelebte Wirklichkeit werden zu lassen und nicht nur schöne Worte in diversen Lehrplänen und Entwicklungsratgebern? Ich glaube, es bräuchte zu aller erst einen viel persönlicheren, familiäreren und auf die Bedürfnisse des jungen Menschen UND seinem sozialen Umfeld zugeschnittenen „Betreuungsschlüssel“, denn die Förderung von individuellen Stärken kann nicht funktionieren, wenn auf einen Betreuer 25 und mehr junge Menschen kommen. Und ja, das ist ein Politikum – und vor allem eine Kostenfrage. Bei jeder Wahl ist das Bildungsthema Streitthema Nummer eins. Und trotzdem ändert sich nie wirklich etwas, im Gegenteil.
Ist es daher nicht höchste Zeit, sich Gedanken zu machen, welche ANDEREN Möglichkeiten es noch geben kann, wie WIR uns die Gesellschaft der Zukunft wünschen würden, den Rotstift und den Normierungswahn endlich zu entsorgen und den Fokus auf das zu lenken, was geht? Es gibt sie bereits, die neuen Lösungswege und wir sind mit unaufhaltsamer Begeisterung dabei, uns diese neue Welt der Stärken und Begabungen zu erschaffen – bist auch du mit dabei?

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About the Author: Karin

Elternbegleiterin, Künstlerin, Autorin, Speakerin, Netzwerkerin, Mutter und Liebende. Seit bald zwei Jahrzehnten Beschäftigung mit selbstbestimmter Bildung und Persönlichkeitsentwicklung.
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